Seit einigen Wochen steht die Corona-Tracing-App zur Verfügung. Sie befindet sich inzwischen auf Millionen Smartphones. Ihre Effektivität ist ein Dauerbrenner vieler Diskussionen. Die Medien betrachten sie kontrovers. Auch Firmen und App-Entwickler sind sind auf den Zug aufgesprungen. Sie haben sogenannte Micro-Tracing-Lösungen in der Entwicklung, also Tracing-Apps oder -Tools für Unternehmen. Sie sollen helfen, infektionskritische Kontakte zu vermeiden und sie rückzuverfolgen. Denn die Auswirkungen dieser Pandemie auf die Wirtschaft sind so gravierend, dass sich Unternehmen schützen müssen, so heißt es bei App-Entwicklern. Wird das die neue Normalität: Die grenzenlose Überwachung während der Arbeit?
Micro-Tracing führt zur Überwachung
Kinexon bietet eine Art Armband an. Dieses warnt, wenn die Abstandsentfernung von 1,5 Meter regelung unterschritten wird. Auch kann es Informationen über Kontaktnähe, -dauer und -intensität erfassen und sie an einen zentralen Server weiterleiten. Die Identifikation wäre laut Kinexon jedoch datenschutzkonform.
Bei PricewaterhouseCoopers (PWC) umfasst das Micro-Tracing-Konzept sogar das Remote-Working, wenn Unternehmen das haben wollen. Dahinter verbirgt sich die Verfolgung des Arbeitens zu Hause oder unterwegs. Hauptsächlich wolle man ein mögliches Infektionsgeschehen im Unternehmen nachvollziehen können. Daher müsse man wissen, zu welchen Kolleginnen und Kollegen diese Person in den vergangenen Tagen einen nahen Kontakt hatte. Die App schaltet sich erst auf aktiv, wenn ein Mitarbeiter ein Firmengebäude betritt. Dann wird der Abstand zu Kollegen per Bluetooth überwacht und das WLAN des Unternehmens zur Kommunikation genutzt. Bei Verlassen des Büros schaltet sich die App ab.
Aber PWC unterstreicht, dass auf diese Weise wertvolle Erkenntnisse über die Art der Zusammenarbeit gewonnen werden. Zum Beispiel: Wo und in welchen Situationen besteht ein Infektionsrisiko? Ist eine andere Raumgestaltung oder ein veränderter Organisationsablauf besser. Solche Auswertungen wären sogar auch bei Grippewellen nützlich.
Transparenz oder absolute Kontrolle?
Schauen wir uns das etwas grundsätzlicher an. Mit der Einstellung eines Mitarbeiters kauft das Unternehmen dessen Arbeitsleistung und Kompetenz ein. Es bezahlt beides mit Leistungen wie das monatliche Gehalt. Natürlich arbeitet der Mitarbeiter nicht ununterbrochen. Er holt sich etwas zu trinken, muss auf die Toilette, unterhält sich mit dem Betriebsrat, geht in die Kantine. Während der Arbeit organisiert er seine Aufgaben. Er nimmt zudem an Besprechungen und Projekten teil, die für die Erfüllung seiner Aufgaben wichtig sind. Oder er unterstützt durch seine Kompetenz die Projekte anderer. Dies macht er weitgehend selbständig. Wesentlich dabei ist, dass er die definierten Ziele erreicht und Projekte zum vereinbarten Zeitpunkt erfolgreich abschließt.
Mit einem Tracker oder einer Micro-Tracing-App werden diese Vorgänge transparent. Arbeitsweisen, Toiletten- oder Küchengänge, soziales Verhalte. Das alles lässt sich minutiös darstellen, in eine Statistik integrieren und mit anderen Mitarbeitern vergleichen.

Doch wenn etwas missbraucht werden kann, dann wird es irgendwann auch missbraucht. So lässt sich beispielsweise mit den gewonnenen Daten ein für das Unternehmen idealtypischer Mitarbeiter konstruieren. Dieser dient dann als Benchmark für alle anderen. Wer davon abweicht, mit dem führt die Personalabteilung oder der Vorgesetzte ein ernsteres Gespräch.
Ein Abstands-Tracker wäre unverfänglicher
Um das in einem Unternehmen in Deutschland einzuführen, müssten große Hürden überwunden werden: Datenschutz, Betriebsrat, blockierende Mitarbeiter, gerichtliche Auseinandersetzungen. Der interne Kommunikationsaufwand wäre auf jeden Fall riesig und extrem schwierig. Tatsächlich könnten daran Firmenkulturen kollabieren.

Die Risiken einer Infizierung lassen sich eigentlich recht einfach stark minimieren. Nämlich mit einem Tracker, der bei Unterschreitung des Abstands hörbar Alarm gibt, und dem Maskentragen in geschlossenen oder engen Räumen. Ein zu kleiner Raum, unglückliche Abläufe beim Maschinen-Handling, zu enge Bestuhlung in der Kantine: Schon macht sich der Abstandstracker bemerkbar. Wie notwendig das wäre, zeigt ein kurzer Blick auf die Baustelle nebenan. Von Abstand ist da selten die Rede.
Mit bloßer Anweisung lassen sich solche Systeme nicht in ein Unternehmen einführen. Zumal das zu Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiter führen würde. Doch ohne Micro-Tracing-App wäre es sehr aufwändig, die physische Anwesenheit von Mitarbeitern manuell zu dokumentieren. So argumentieren die Anbieter. Aber wird das tatsächlich von den Firmen erwartet? Gibt es hierfür einen Auftrag des Bundesgesundheitsamts? Tatsächlich müssten sie nur dafür sorgen, dass der Abstand eingehalten und die Masken getragen werden. Alles andere ist kein Schutz, sondern Überwachung.